Türkiser Nestbeschmutzer

Einwohner von Orten weltweit lassen sich nicht gerne pauschal kritisieren, noch dazu mit fragwürdigen Aussagen und Halbwahrheiten. Kommt die Kritik auch noch von einem Einwohner, sprechen rechte Gesinnungsgenossen schnell vom Nestbeschmutzer. Seit gestern ist Kurz somit nach dieser Logik ein türkiser Nestbeschmutzer seiner Heimatstadt Wien.Egal, ob die Ablehnung der Mindestsicherung durch das Bundesland Wien nun der Regierung gefällt oder nicht, deshalb muss nicht eine ganze Stadt und deren Einwohner verunglimpft werden. Denn das hat Kurz mit seiner dummen Aussage getan:
„Ich glaube nicht, dass es eine gute Entwicklung ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen“, so Kurz zur Eröffnung der Regierungsklausur. In Wien gebe es 13 Prozent Arbeitslose, das sei dreimal so viel wie in Tirol und doppelt so viel wie bundesweit, sowie immer mehr Obdachlose.[…] In Wien sei die Zahl der Mindestsicherungsbezieher stark gestiegen. „Es ist keine gute Entwicklung, wenn immer mehr Menschen keine Arbeit haben und von der Mindestsicherung abhängig sind.“  Link zu ORF.at
Kurz setzt Mindestsicherung immer mit „faul und arbeitsunwillig“ gleich. Dabei verschweigt er großzügig, dass ein wesentlicher Teil der Bezieher Kinder unter 16 Jahren sind sowie Menschen, die einen Job haben (womöglich früh aufstehen) und so wenig verdienen, dass sie mit der Mindestsicherung aufstocken – die sogenannten Aufstocker, darunter fallen auch Pensionisten!
Wien ist mehr als dreimal so groß wie Tirol, somit hinkt der Vergleich der Arbeitslosenzahlen gewaltig (noch dazu mit den Gastro-Jobs in Tiroler Skigebieten)! Als einzig relevante Großstadt in Österreich spielt Wien damit in einer völlig anderen Kategorie als der Rest des Landes. Das Phänomen der Obdachlosigkeit trifft auch viele Österreicher aus den Bundesländern, die einfach wegen der menschenwürdigeren Situation nach Wien wandern. Ebenso der Arbeitszuzug, vor allem aus Niederösterreich, nach Wien. Denn im schwarzen Paradeland gibt es kaum so adäquate Jobs wie in der Großstadt. Die hohe Arbeitslosigkeit in Wien liegt auch an den Binnen-Wirtschaftsflüchtlingen!
Das gefällt vielen Leute in den Bundesländern nicht, ich weiß! Auf Wien hinhauen ist deshalb sehr beliebt. Mit der Kritik bedient Kurz seine Fans am flachen Land!
Jedenfalls kann ich nicht herausfinden, was für Kurz „früh aufstehen“ bedeutet. Es gibt keine leeren U-Bahnen, Pendlerzüge und Straßen an Werktagen um 7h oder 7.30h. Ja klar, da sitzen Menschen drin, die schon um 5.30 aufgestanden sind und nach Wien einpendeln müssen, weil es in ihrer Wohnumgebung (meist NÖ) keine Jobs gibt.
Wirklich früh aufstehen müssen auf jeden Fall Kinder und Jugendliche außerhalb Wiens. Die können bei Schnee und Minustemperaturen zwischen 6:10 und 7:00 auf den Schulbus warten, der sie eine halbe Stunde bis Stunde später in ein Gymnasium (die bevorzugte Schule für Kurz) bringt. In Wien geht das innerhalb von Minuten! Viele bei uns am Land stehen früh auf (sagen wir 5.15h), weil diese auch meistens um 15.15h heimgehen – damit noch was vom Tag übrig ist! Und wie schon angemerkt stehen nicht Wenige sehr früh auf, weil sie in Wien arbeiten (müssen)!
Auch wenn es ein Mensch wie Kurz, der keinen Tag in der realen Welt außerhalb seiner Parteistruktur gearbeitet hat, nicht glauben mag (und so manch anderer!): Früh aufstehen ist noch keine Leistung!
Die Kritik des Bundeskanzlers ist eine beleidigte Reaktion auf die Frechheit eines Bundeslandes (noch dazu des einzig wirklich funktionierenden für Kinder, Auszubildende, Frauen, Alleinerzieherinnen und Pensionisten sowie Kranke), seine herrlichen Reformen mit der FPÖ rundum abzulehnen. Das ist jetzt eine persönliche Rache gegen das Wien, in dem er gescheitert ist – Stichwort Wien-Wahlkampf und Geil-o-mobil! Oder, wie Hans Rauscher am 11.Jännern im Standard schreibt: „Der Krieg der türkis-blauen Koalition gegen Wien ist erklärt!“ Link zu Rauschers Kommentar
Und sollten türkis-blaue Protagonisten über „Nestbeschmutzer“ dilettieren, können sie den aktuellen Bundeskanzler gleich mitmeinen!

PS: Kein Amt der Welt verdient irgendeine Art von Respekt – nur die jeweilige Person, die es bekleidet. Automatisch geht da gar nichts, der Respekt muss schon da gewesen sein oder von der Person erarbeitet werden. Für mich ist bei der aktuellen Besetzung des Bundeskanzleramtes keine der beiden Voraussetzungen gegeben!